cemartin berlin lektorat ghostwriting -homiehood

 

Szenen

 




(2019)

Vom Herrn Zum Bauern

  

-      „Mein Herr, wollen Sie meine Hilfe?“

Regentropfen.

Angewidert.

-      „Verpiss dich, Kanacke!“

Wind.

Zögernd.

-      „Mein Herr, aber bluten. Und nass. Ich kann Sie nehmen zu Krankenhaus …“

-      „Und ich kann machen, dass du blutest! Fahr weiter mit deinem scheiß Schlitten, du Hurensohn!“

-      „Entschuldigung … aber ich kann nicht einfach wegfahren! Das macht man nicht!“

-      „Meine Fresse! Macht man nich, macht man nich – wenn man nich Leute wie dich reingelassen hätte, hätten wir keine Probleme! DAS macht man nich! Geh weg jetzt! Geh nach Hause, du Sau!“

-      „Ich verstehe nicht …darf ich dann für Sie Polizei rufen?“

-      „Bist du verrückt?! Damit ich pusten darf, oder was? Was wollt ihr noch alles anrichten, ihr Schweine! Verdammte Kälte …“

-      „Ja, kalt und nass und bald es ist dunkel. Bei uns macht man nicht, Verletzte zu liegenlassen. Bei uns man bringt Verletzte zu Krankhaus. Kommen Sie, ich bringe Sie!“

-       „… is nich dein dreckiger Ernst!“

-      „Doch, ist ernst.“

-      „…ey, wieso fährt´n Asylant wie du ´n neuen E350, und ich´n verdammten uralten ZT323?! Typisch Drogendealer … Dreckspack!“

-      „Bitte wir müssen vorsichtig sein, dass nicht die Sitze werden so schmutzig.“

-      „Ich glaub, ich hätte Lust, dein Auto vollzukotzen, Alter … aber so richtig …“

-      „Es ist nicht mein Auto, es gehört meine Firma. Bitte wir müssen vorsichtig sein, dass nicht alles wird so nass.“

-      „Ja is schon klar, ich zieh die Drecksjacke aus, Eure Hoheit. Hier, pack mal hinten rein … so, und mit dem Dreckslappen wisch ich mich ab … so, bin ich jetzt sauber genug für afrikanische Ansprüche?!“

-      „Alle kein Problem, ich mache hinterher sauber. Wo ist der Weg zu Krankenhaus?“

-      „Schön warm hier drin … quatsch keinen Scheiss, die Klinik ist fast 20 Kilometer entfernt, das lohnt sich nich wegen so´m Kratzer. Fahr ma zum Sören, der wohnt nich weit. Fahr zu, einfach erstmal geradeaus … ich sag dir dann, wo´s lang geht.“

-      „Ist Herr Sören ein Arzt?“

-      „Sören is mein Schwager. Mit dem sein Schlepper ziehen wir meinen aus´m Graben.“

-      „Aber wer versorgt Blut?“

-      „Alter, wir sind hier aus ander´m Holz geschnitzt als ihr faulen Migrantensäcke! Bei Wind und Wetter sind wir draussen, wir arbeiten immer! Für uns zahlt kein Sozialstaat! Wir haben keine 50 Kindergelder pro Muschi! Wir geh´n nich einfach irgendwo hin und uns schnorren uns durch! Wir klau´n auch nich und nehmen keine Drogen! Und wir schänden keine Frauen und Kinder! Das hier ist unser Land! Und deswegen haben wir hier auch was zu sagen! Verstehst du das überhaupt? UNSER Land!“

-      „Entschuldigung, ich habe auch ein Land, wo ich komme her. Und ich mache leider nicht, was Sie sagen über uns … es ist Fehler. Es gibt einige, aber wir sind nicht viele so … auch nicht alle Deutsche sind Nazi …“

-      „Da vorne rechts! An der Eiche! Also an dem BAUM, verstehst du? Eichen kennt ihr ja nich, ihr habt ja nur Steine und Trommeln … wo kommst du denn überhaupt her ? Welches Land?“

-      „Eritrea, mein Herr.“

-      „Eri…was? Eriwan?!“

-      „Nein, Eritrea, Nordosten von Afrika. Neben Sudan, Rote Meer.“

-      „Ach du Scheiße. Am Arsch der Welt. Und seit wann bist du jetzt hier?“

-      „Ich bin gekommen in 2016 …“

-      „Ja, ich das letzte Mal bei meiner Frau auch …“

-      „Oh, mein Herr, sind Sie auch gekommen den Weg über Mittelmeer oder über Afghanistan?“

-      „Nee, über´s Bett. Vergiss es …“

-      „Kenne ich nicht den Weg. Ich kann aber nicht vergessen meine Frau. Ich war ärgerlich über meine Frau und dann ich kam zurück … aber dann unser Haus brannte. Und ich war nicht da. Alle waren weg. Meine Kinder, meine Frau, … alle weg …“

-      „Wie jetzt weg? Abgehauen, oder was?“

-      „Wir haben in unser Land Nationaldienst und alle müssen mitmachen. Es ist wie Sklaven. Kein Geld, wenig Essen, immer Schüsse, immer Feuer, immer Krankheit, immer Angst … und … ich war nicht da, als sie geholt haben meine Familie. Ich war nicht da. Sie bestimmt alle schon tot, nur ich lebe noch ...“

-      „… schlimm, schon … ja, schlimm. Da vorne wieder rechts und dann gleich danach scharf links.“

-      „Baum, ja?“

-      „Nee, dahinter, am alten Grabstein. Und dann links … und was machst du jetzt hier?“

-      „Das ist große Grabstein … wirklich große …“

-      „Ja, wir haben hier halt Kultur, so was kennt ihr ja nich. Also was machst du jetzt hier? Wieso hast du plötzlich ´ne Firma und so´n dickes Auto?“

-      „Ich habe gemacht Deutschkurs und dann Trainings. Und dann sie haben gesagt, ich kann Führerschein machen …“

-      „Ich hab´s gewusst … alles in Arsch geschoben … und weiter?!“

-      „Ich war Busfahrer in meine Stadt. Und dann ich hatte gute Noten in den Kursen. Und dann ich habe gemacht Führerschein und dann eine Chef hat mir gesagt, ich kann fahren seine Autos …“

-      „Du bist Chauffeur von ´nem reichen Sack? Gibt´s ja nich …“

-      „Nein, Mietwagenfirma. Und immer wenn Leute mieten nur one-way, ich fahre mit Bahn hin und bringe zurück Auto.“

-      „Aha. Was verdient man da so?“

-      „Ich habe große Glück, denn ich habe Mindelohn! Jeden Ende von Monat ich bekomme genug Geld für Miete, Strom, Internet und Essen und dann sogar bleibt Geld übrig!“

-      „Mindestlohn, achso. Is ja auch nich dolle.“

-      „Doch, das sehr doll. Warme Wasser aus Leitung, abgeschlossene Wohnung, gutes Essen, Kleidung, überall Supermarkt und Arzt und dann ich darf fahren diese Autos – ich habe gehabt große Glück! Aber meine Familie nicht …“

-      „So, halt ma an hier, wir sind da.“

Regentropfen.

Angewidert.

-      „Hey Bernd, mit wem bist´n Du unterwegs?! Soll ich die Jungs rufen?“

-      „Schon ok. … Wie is Dein Name?“

Wind.

Zögernd.

-      „Adhanom, mein Herr.“

-      „Ich bin nicht Dein Herr. Wenn Du mal wieder inner Gegend bist … komm vorbei auf´n Tee.“

Blicke.

-      „Dhan Kun!“ 



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Kennt auch Ihr das ? Ein und derselbe Sachverhalt kann oftmals in völlig unterschiedlicher Weise wahrgenommen und dargestellt werden. Im Folgenden ein Beispiel.

 

(2012 II)

Ausgangslage :

Am 12. Dezember 2012 morgens kauft Gertrud Kaputtke, soeben 90 Jahre alt geworden, in einer Neuköllner Tankstelle ein Eis zu 2,99 €, das anschließend von ihr auf einer Parkbank verspeist wird.

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Variante 1

Am Morgen des zwölften Dezember 2012 betrat zu einer bislang nicht näher bekannten Uhrzeit die neunzigjährige Rentnerin Gertrud K. eine Tankstelle im Berliner Stadtbezirk Neukölln. Unter Vorlage eines Geldbetrages in Höhe von zwei Euro neunundneunzig forderte sie die dortige Mitarbeiterschaft zum Abschluss eines Kaufvertrages bezüglich eines ihr daraufhin zu übereignenden Artikels der Gattung "Speiseeis" auf. Unmittelbar nach erfolgreichem Abschluss des Rechtsgeschäftes entfernte sie sich aus der Verkaufsstätte und suchte eine nahegelegene Grünanlage auf. Sie besetzte dort eine Sitzgelegenheit und vereinnahmte folgend die zuvor erstandene Ware.

Das Motiv für die Tat blieb bislang ungeklärt. Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahren wurde abgesehen.  

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Variante 2

"Haben Sie´s schon gehört ?"

"Nein, was denn nu schon wieder ?"

"Die Kaputtke hat heute früh Eis gekauft !"

"Wie bitte ?!"

"Ja ! Eis ! Nun stell´n sich das mal vor ! Wo doch jetzt Winter is !"

"Nein !"

"Doch ! Ich hab´s doch selbst gesehen !"

"Ach du liebe Zeit ! Und das in ihrem desolaten Alter !"

"Ja, und es kommt noch dicker : Die ist dann damit im Park verschwunden und hat sich das Eis gleich da vor Ort reingezogen !"

"Gibt´s ja nicht ! Das ist ja wohl die Krönung !" 

"Ja, na eben ! Da rennt die mutterseelenallein durch die Gegend und kauft sich einfach Eis und isst das denn gleich auch noch auf ! Heute früh !"

"Du liebe Güte ! Und dann ist doch das so teuer geworden ! Die muss ja im Geld schwimmen und weiß nicht mehr wohin damit !" 

"Na eben, sag ich doch ! Ich weiß ganz genau wie teuer das ist, weil ich doch da selbst öfter mal was gekauft habe. Unmöglich, sag ich Ihnen, unmöglich so was ! Wie kann die denn bloß so verschwenderisch sein ! Was soll denn aus ihren Kindern werden, wenn die eines Tages mal vorbeikommen müssen, um die Wohnung aufzulösen ?"

"Stimmt ! Ist ja direkt erschreckend, wie man nur so an sich denken kann ! Hat sie übrigens Kinder ? Wusste ich gar nicht ..."

"Weiß ich auch nicht, interessiert mich aber auch nicht. Soll die doch sehen, wo sie bleibt. Die wird sich noch wundern !"

"Na eben ! Vor allem bei der Kälte, die immer im Winter dann mal sein kann, ja, also letztens hatten wir ja fast Minus 10 Grad, vor zwei Jahren, das weiß ich noch, und dann holt die sich ausgerechnet ein  Eis, also die muss sich ja zu Tode erkälten ! Aber ist ja ihr Bier. Vielleicht ist die ja einfach nicht mehr ganz dicht, wissen Sie ? Das würde ja so vieles erklären ..."

"Ja ! Also das denke ich mir ja schon lange. Die ist doch schon immer so komisch. Neulich hat sie mich nicht mal mehr gegrüßt, als ich ihr von der gegenüberliegenden Straßenseite zuwinkte; da hat die einfach weiter inne Gegend gekuckt ! Ja, also einfach ignoriert hat die mich !"

"Unmöglich so was, un-mög-lich ! Die ist dermaßen aggressiv, das habe ich auch schon erlebt, als sie damals nicht mal für mich mein Paket angenommen hat; angeblich hat sie die Klingel nicht gehört. Aber der glaube ich ja schon lange kein Wort mehr. Die ist einfach nur  asozial."

"Ja genau ! Asozial ! Und denn, wenn die so verwirrt ist, kann uns auch noch passieren, dass es brennt, nur weil die vielleicht mal ihren Herd vergisst auszumachen oder so, man weiß ja nie !"

"Du mein liebes Bischen, das wär´s ja noch ! Na dann kann die aber was erleben, sag ich Ihnen, da nehm ich aber kein Blatt vor´n Mund ! Denn ruf ich aber meinen Schwager an !"

"Und so eine wohnt nun hier in unserem schönen Haus ! Eigentlich gehört die längst in´s Heim, aber daran denkt die ja nicht ! Und wir können jetzt sehen, wo wir bleiben !"

"Ich sage Ihnen, sowas gab es früher nicht ! Das hätten wir einfach gemeldet und ein paar Stunden später wäre der Fall erledigt gewesen. Aber heute ? Geh´n Sie mal hin -- da werden sie für hysterisch gehalten, hysterisch !"

"Jaja, ich weiß. Hab ich auch immer wieder erlebt. Ist nicht besser geworden alles. Heute gibt´s eben keine Moral mehr, keinen Anstand, heute denkt doch jeder nur noch an sich; jeder gegen jeden."

"Schlimm. Ganz schlimm, sag ich Ihnen. Will gar nicht wissen, wo das noch endet."

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Variante 3

Ohne zu verzagen, ging die Gertrud in den Laden

und kaufte dort 'was; wie konnte sie´s wagen.

Winters ein Eis war´s; ihr armer Magen.

Sie zahlte 3 "Mark" -- das darf ich Euch sagen --

und liegt heut´ im Sarg, sonst könntet Ihr sie fragen.

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Variante 4

Berliner Rentnerin kauft Eis -- fast tot !

Berlin (xy) Wie aus informierten Treppenhauskreisen verlautbart, hat gestern am frühen Morgen Erika Q., 90 (Name von der Redaktion geändert), an einer Neuköllner Tankstelle Eis im Wert von fast drei Euro beschafft. Nur wenige Kilometer entfernt von eben dieser Tankstelle war vor knapp 4 Jahren ein Linienbusfahrer Opfer einer wüsten Beleidigung geworden. Weshalb Erika Q. gestern nun ausgerechnet dort das Eis kaufte, ist noch nicht abschließend aufgeklärt. Es ist aber sehr wahrscheinlich zu vermuten, dass ein persönlicher Hintergrund nicht mehr ausgeschlossen werden kann. In welchem Ausnahmezustand muss ein Mensch sein, sich kurz vor Weihnachten trotz Bibberkälte so etwas anzutun ! Doch es kam noch schlimmer ! Erika Q. soll kurz nach dem Eiskauf im benachbarten Park gesehen worden sein, wie sie das Eis in hastiger Lust verdrückte ! Der Park, seit Jahren wegen der zahlreichen Hundehäufchen in Verruf, hätte Zeuge ihres Todes werden können, wenn sie ihn nicht rechtzeitig nach ihrer Wahnsinnstat verlassen hätte. Nur wenige Stunden später kam in Wedding bei einem schweren Verkehrsunfall ein Frührentner ums Leben, der beim Rechtsabbiegen von einem Bestattungswagen übersehen worden war. Es hätte auch Erika Q. sein können.

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Variante 5

Es war einmal eine alte, sehr alte Frau, die war Rentnerin und langweilte sich gar sehr. Eines Tages aber dachte sie so bei sich : "Ich könnte ja mal ein Eis kaufen gehen. Au fein, das mach ich ! Und anschließend ess ichs im Park." Und so begab es sich, dass die alte Frau sich aufmachte zu einem recht belebten Orte, da ein solches Eis zu erstehen sei. Dort hinangekommen nach eines langen Weges Abenteuer, erstand sie es schließlich und begab sich frohen Mutes, ihrem Entschlusse getreu, in ein nahegelegenes Wäldchen. Vor Freude himmelhoch jauchzend entwickelte sie das Eis aus seiner Umhüllung und zögerte nicht, es inmitten der Geschöpfe der Pflanzenwelt zu verschlingen. Und nicht eher setzte sie ab, als nicht das Eis vollständig in ihr und so das Werk vollbracht war. Sie ward hierauf sehr glücklich fürderhin noch lange Zeit. Und wenn sie nicht längst verstorben, so lebet sie noch morgen. 

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Variante 6

"Jaja, unsere liebe kleine Schwester Gertrud ist heute trotz ihres Alters, und obwohl es draußen so sehr kalt ist, ganz allein hingegangen und hat sich von ihrer kleinen Rente ein schönes, schönes Eis gekauft. Ja, so wie früher. Das war eine lustige Idee, nicht wahr ? Sie ist noch immer so frisch und jugendlich, dass man ihr das Alter kaum anmerkt. Aber so wunderbar spontan war sie ja schon immer. Sie hat das Eis dann auch gleich im Park inmitten ihrer geliebten Natur vollständig in sich aufgenommen, weil´s so lecker war. -- Hach, wir wollen ihr wünschen, dass sie noch recht oft so ein schönes, schönes Eis essen kann."

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Variante 7 I

"Mann, die Olle hat anna Tanke n Eis jekooft und is denn rüba inn Paahk und hats da vaputzt. Watt soll daran so geil sein, Alta ?!"

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Variante 7 II

"habe ihsch gesänn wie gegangen ist morrgen altes frrau ßu den tankstele und hat gekaufft dorrt eineh eis. ist sie gegangen hintahea ßu wo vieles beume sind und hat gegehssn dieseh eis. hat sie gefrreut sihsch, denke ihsch, abah weiss ihsch nihscht waitah."

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Variante 8

In Rede stehende Zielperson verließ morgens zu nicht mehr genauestens evaluierbarer Uhrzeit ihr Wohnhaus und konnte bis zu einer Tankstelle unauffällig begleitet werden. Diese verließ sie nach etwa 135 Sekunden mit Gegenstand in der Hand. Verfolgung bis zu nahegelegener Parkanlage. Dort beobachtet, wie sie den Gegenstand durch körperliche Aufnahme liquidierte; vermutlich Speiseeis. Dauer ca. 34 Minuten. Möglicherweise Zahnersatz am Wohnort vergessen. Keine weiteren Vorkommnisse, daher Ende Observation.

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Variante 9

Ihre Augen, von Falten mild umrahmt, hellblau, noch immer lebenslustig, blickten die Straße entlang, die sich in den vielen Jahrzehnten, seit sie hier wohnte, so sehr verändert hatte. Nahezu jeder Gegenstand dieser Straße war Gertrud vertraut und konnte Anlass für eine kleine oder große Erzählung bieten. Ein solches Vertrautsein hatte sie nicht einmal in ihrem schlesischen Heimatort empfunden, von wo sie im letzten Kriegsjahr vertrieben worden war, obgleich sie dort ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, mit der sie viele warme Erinnerungen noch verbanden. Wohl dachte sie immer wieder einmal an ihre Heimat zurück, an die unberührte, reiche Natur, goldene Sonnenstrahlen am Ufer eines Bächleins, von wo aus sich ein unvergleichliches Panorama über mehrere Nachbarorte hinweg inmitten dichter Wälder wie auch ausgedehnter Felder dargeboten hatte. Ein Anblick, wie sie ihn seit 1944 nie wieder erleben sollte. 

Der Anblick der heruntergekommenen Straße hingegen offenbarte ihr tagtäglich, dass dies hier keineswegs ihre Heimat war -- und dennoch fühlte sie sich diesem unwirklichen Orte geradezu herzlich verbunden. Weshalb, war ihr nie bewusst geworden, vielleicht auch einfach nur noch aus Gewohnheit, wie sich so vieles andere in ihrem Leben traditionell erklären ließ. Dieser aufgezwungene Ersatz für ihre Heimat hatte es immer wieder verstanden, sie nie wehmütig werden zu lassen; zu unruhig und aufregend war es hier, als dass sentimentale Gedanken wesentlich Raum hätten ergreifen können. Stattdessen hatte sich das Leben hier zunächst  ausschließlich um überlebenswichtige Inhalte gedreht und im Laufe der Zeiten zunehmend um Fragen der Bezahlbarkeit ihres Wohnraumes sowie auch ihrer eigenen Sicherheit; spätestens, seit ihr Ehemann in den sechziger Jahren verstorben war. An eine Zeit, da es hier einmal einfach nur friedlich gewesen wäre, zum Genießen einladend, vermochte sie sich nicht zu erinnern. Doch mit solcherlei Grübeleien beschäftigte sie sich ja prinzipiell nicht, sondern eher mit praktischen Erwägungen, die ihr in ihrer heutigen Lebenssituation gerade nützlich sein könnten, während sie allerdings ihren geradezu gleichmütigen Optimismus niemals verlor; eine freundliche, humorvolle Charakterstärke, um deretwillen sie stets beneidet und gemocht wurde. 

Daran konnten auch die Betrunkenen, die Schnorrer oder die Aggressiven heute nichts ändern, als sie den müllgesäumten Gehweg entlang lief, ihren treuen, längst defekten Regenschirm dem stürmischen Wetter entgegenstemmend. Kälte, echte Kälte kannte sie nur zu gut aus dem Winter ´45 / ´46, als Straßenbäume gefällt worden waren, um die Wohnstube notdürftig beheizen zu können -- sofern jemand in der glücklichen Lage gewesen war, inmitten der überwältigenden Trümmerlandschaft überhaupt irgendwo untergekommen zu sein. Das kalte, ungemütliche Wetter heute konnte ihr nicht imponieren.

Den tropfenden Regenschirm in der anderen Hand, überreichte sie dem Verkäufer -- es war ihr Lieblings- Verkäufer -- Geld. 

"Stimmt so." lächelte sie herzlich. Vielleicht hatte es weder er noch irgend jemand jemals bemerkt, doch entsprach ihrem Naturell, beim reden zu lächeln, soweit nicht ein ernster Anlass ein adäquateres Verhalten gebot. Was ursprünglich jugendlicher Schüchternheit geschuldet war, hatte sich im Laufe des Lebens als bewusste Selbstverständlichkeit herausgebildet. Respekt, so meinte sie, sei selbstverständlich, jedem gegenüber. 

Selbst ihr Regenschirm genoss diesen Respekt, als die ihn sorgsam entfaltete, während sie die Tankstelle verließ. Sie überlegte, welchen Umweg sie wohl nehmen könnte, um nicht zu schnell wieder zuhause zu sein. Zuhause, das war lediglich ein Wort für ihre aufgeräumte, saubere Wohnung im ersten Stock eines billig erbauten Hauses des Sozialen Wohnungsbaues aus den fünfziger Jahren. Einfach eingerichtet innerhalb vergilbter Tapeten mit Möbeln, die seit vielen Jahrzehnten nicht ersetzt worden waren, weil sie eben irgendwie immer noch funktionierten. Seit ihr Mann nicht  heimgekommen war, hatte es keinen Anlass mehr gegeben für nennenswerte Modernisierungen jeglicher Art. Für wen auch, nachdem doch er es gewesen war, der stets dem neuesten Trend folgen wollte und sich dabei um ihre sachlichen Einwände nie gekümmert hatte. Einsam war´s seither geworden. Kinder hatten sie damals haben wollen, doch kam es ja nicht mehr dazu, weil er in betrunkenem Zustand von seinem Baugerüst gefallen war, bevor das gemeinsame Vorhaben verwirklicht werden konnte. Kinder erst, wenn wir sie uns wirklich leisten können, hatten sie beide überlegt und daher zunächst an einer Art Wohlstand gearbeitet. Zu lange. Überholt worden waren sie von der jeden Trend relativierenden Zeit. 

Zeit hatte sie heute. Daher beeilte sie sich nicht. Schließlich stand sie vor ihrer Lieblings- Parkbank. Sie blieb kurz stehen, um dann mit dem winzigen Rest eines aus der Manteltasche hervorgekramten gebrauchten Papiertaschentuches eine kleine Fläche abzuwischen und setzte sich erleichtert seufzend darauf. Den Regenschirm gleichzeitig etwas unbeholfen haltend, öffnete sie nun mit beiden Händen mühsam die komplizierte Verpackung gerade so weit, dass das Eis hervorschaute. Sie betrachtete es erwartungsvoll, als wurde es sich im nächsten Moment wundersam in etwas ganz anderes verwandeln können und entschloss sich endlich, es ganz vorsichtig anzulecken. Ein wohliger Laut entfuhr ihr. Wenn früher, also ganz früher, endlich einmal der Eismann in die Gasse gekommen war, rannten immer alle Kinder zu ihren Müttern, um sich ein paar Pfennige zu erflehen. Das war dann aber auch ein Eis, das richtig schmeckte, ein damals unvergleichlicher Hochgenuss; selbstverständlich nicht vergleichbar mit dem Eis von heute. Dennoch, lecker, ja lecker genug war es für den heutigen Anlass. Sie biss ein winziges Stückchen ab und lutschte es ausgiebig. 

Als ein Sonnenstrahl auf ihr graues Haar fiel, bemerkte sie, dass es längst nicht mehr regnete.

"Die Leute müssen denken, ich bin verrückt;" lachte sie in sich hinein, während sie sich umblickte, "dabei hab' ich doch heute Geburtstag."

 

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Dass Behörden keine Fehler machen, wissen wir alle. Manchmal sind wir eben einfach nur zu uninformiert ...


 

(2003)

  

- "Guten Tag, sehr geehrte Bürgerin, ich bin Herr Schutt von Ihrer örtlichen Denkmalschutzbehörde. Ich bin beauftragt, an Teilen Ihrer Wohnung vermittels Inaugenscheinnahme unter Zuhilfenahme einer geeigneten Messeinrichtung bestimmte Längenmaße zu überprüfen und zu protokollieren. Darf ich bitten ?“

- "Bitten ? Worum geht´s denn, bitte ?"

- "Ich bitte um einen Augenblick Geduld, da nachfolgend Ihnen das weitere Procedere nach Aufnahme der Messergebnisse durch meine Person mitgeteilt werden wird. ... So. Aha. 3.312 Millimeter beträgt der ordnungsgemäß evaluierte Abstand von der vordersten Oberkante des Treppenabsatzes Ihres Podestes hier im ersten Obergeschoß bis zu Ihrer mittig zwischen den beiden anderen Wohnungen befindlichen Wohnungseingangstürschwelle. Ich vermerke, dass der sich bereits während umfassender Prüfung der Bauarchivunterlagen aufgedrängte Verdacht nunmehr nach erfolgter Kontrolle realiter bestätigen lässt. Es ist folglich unter Beachtung der §§ 8276g bis 8276u Baunutzungsschutzaufsichtsgeneral-wiederherstellungsgesetz in der Fassung vom 13.03.1959 ergebnissichernd festzustellen, dass dieses seit dem 01.01.1980 unter Denkmalschutz stehende Haus ausweislich meiner soeben Ihnen dargelegten Maßaufnahme unzulässig in erheblichem Umfange verändert wurde; §§ 66f, 456, 777 Feststellungsbauschuttgesetz. Dieser rechtswidrige Zustand stellt eine Ordnungswidrigkeit dar -- § 975z II Baubußgelderfindungsgesetz -- und ist nunmehr unverzüglich rückgängig zu machen; gegebenenfalls unter Androhung unmittelbaren Zwanges gemäß §§ 1, 3, 5, 7, 9 Baudenkmalfeldjägergesetz. Dort, wo die von Ihnen genutzte Wohneinheit aktuell vorzufinden ist, befand sich mindestens dokumentarisch nachweisbar bis zum Jahre 1855 ursprünglich ein bis zur gegenüberliegenden Fensterfront des Hauses reichender, 9.688 Millimeter umfassender Teil des Hausflures, der als eine aus heutiger Sicht historisch wertvolle Wandelhalle ausgestaltet war. Ich werde daher unverzügliche Korrektur veranlassen. Vor-genannte mündliche Informationsgabe erfolgte hierdurch zu Ihrer einfachen Kenntnisnahme und ist in dieser Form nicht anfechtbar. Ein schriftlicher Bescheid auf deren Grundlage nebst Rechtsbehelfsbelehrung wird innerhalb der nächsten sieben Tage dem Halter ihrer Wohneinheit zugestellt werden."

- "... häääh ? Was hamsie denn eigentlich gerade gesagt ? Welche Halle ? Worum geht´s denn bitte ?"

- "Sehr geehrte Bürgerin, ich wies sie soeben deklaratorisch darauf hin, dass im Zuge der Renaturalisierung dieses denkmalschutz-geschützten Gebäudes Teile Ihrer Wohneinheit entfernt zu werden haben zu Gunsten einer zu rekonstruierenden Wandelhalle." 

- "Versteh ich nicht. Wieso denn ? Und wenn, in welchem Umfang ? Und wie soll denn das überhaupt gehen ?"

- "Hmmm ... nun, Ihr Unverständnis voraussetzend, noch einmal in aller adressaten-angepasst gebotenen Deutlichkeit : Die Mitte Deiner Wohnung wird abgerissen. Kommt stattdessen Denkmal für Öffentlichkeit rein. Kapiert ?" 

- "Wie bitte ? Wieso denn das ?"

- "Weil es früher schon so war. Das Gesetz will es so."

- "Ich wohne seit 61 Jahren hier und das war schon immer alles so ! Und das war immer schon alles gut so !“

- „Dann hat sich die unerlaubte Veränderung der historisch bedeutsamen Bausubstanz eben schon vor Ihrem damaligen Wohnungsbezug zugetragen.“

- "Das Haus ist doch damals erst neu gebaut worden, das weiß ich doch noch ! Das war ganz bestimmt schon immer so !"

- "Um Verzeihung bitte ich, festzustellen zu haben, das hier ganz offenkundig ein bedauerliches Miss- sowie Unverständnis Ihrerseits vorzuliegen zu hat ... äh ... vorzuliegt, ... ich meine vorliegt zu haben ..., nein also, es liegt eben einfach vor."

- „Ja wie stellen Sie sich das denn vor ? Sie wollen eine Schneise in meine Wohnung bauen ?!“

- „Ihre zusammenfassende Darstellung könnte als ausreichend zutreffend erachtet werden, soweit ..."

- "Für eine Vergrößerung des Hausflures ?!“ 

- „Genauer gesagt für die ursprüngliche...“ 

- „Was soll ich denn mit einer halben Küche ?! Und vom Schlafzimmer müsste ich ja dann immer über den Hausflur zur Toilette gehen ! Das kann doch wohl alles nicht wahr sein ! Ich krieg gleich wieder Herzrasen ...!“

- „Dieser Zustand ist -- es könnte meinetwegen formuliert werden 'bedauerlicherweise' -- zwingend herbeizuführen. Schließlich überwiegt das öffentliche Interesse an der Rekonstruktion. Erwähnenswert sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass nach Abschluss der Arbeiten eine originalgetreue Nachbildung der ursprünglich kurz vor dem jenseitigen Fenster befindlichen Marmorgedenkplatte mit den versilberten Inschriften der im Dreißigjährigen Krieg in der damaligen Landgemeinde Alt- Kaputtkow an der Halde Gefallenen feierlich aufgestellt zu werden gehat ... hat, also werden soll, wozu Sie selbstverständlich einzuladen zu sind .. zu seien, also einzugeladen."

„Ich werd verrückt ! Mein Heim ! Wie können Sie nur so grausam sein ? Warum nur, warum ?! ... Ächz ..."

- „Ich wende Gesetzesvorgaben an, die ich anzuwenden habe. Diesbezügliches Verständnis wird erbeten“ 

- „Gesetze sind doch aber für die Menschen da und nicht umgekehrt ...uff, puh ... das lasse ich mir nicht gefallen ! Ich, ächz, mein Herz ... verklag Sie, Sie Unmensch ...“ 

- „Ich weise ausdrücklich daraufhin, dass ein Rechtsbehelf Ihrerseits derzeit noch unzulässig wäre, da ein schriftlicher Verpflichtungsbescheid noch nicht vorliegt. Rein unverbindlich jedoch nehme ich auf Wunsch gern Ihren Protest zu Protokoll. Sie sind also Frau ... äh, Frau Schlampe, erstes OG,  Hausnummer...“ 

- „SCHLACKE !“

- „Gut. Frau Schlange im Haus Nr. 52...“ 

- „51 !! SIE UNFÄHIGER ... BANDIT ! Keuch ...“

- „Wie bitte ? Sie haben sich zu meinem Bedauern soeben zu einer strafbaren Beleidigung verstiegen, deren Verfolgung im Anschluss an das vorliegende Verfahren sorgfältig zu prüfen wird wird ... ist, sein soll. Und nein, Frau Schlanke, zu Ihrer Information : Sie wohnen in der 52.“ 

„Ich werde wohl noch wissen, wo ich ... ojeojeoje ... wohne ..."

„Nun fallen Sie hier mal nicht gleich um, während wir unsere informationelle Verbalkorrespondenz noch gar nicht beendet zu haben ... sind, ... es beendet zu werden wurde, also jedenfalls Ende ... hmm ... nunja, es mag eventuell sein, dass Sie im Hinblick auf die von Ihnen behauptete Wohnadresse unter Umständen recht behalten könnten, wenn ich mir so die Akte erneut anschaue ... -- huch, äh, Frau Bürgerin ...?


  

Erika Schlacke, 08.05.1910 - 09.11.2001

Verstorben in Erfüllung einer dienstlichen Pflicht.

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"Ein ganz normaler Schulweg" 

(Schulaufsatz von 1989; reloaded 2012) 

 

An einem ganz normalen Schultag beabsichtigt unser ganz normaler Durchschnittsschüler, morgens mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren. 

Ganz so normal ist dieser Tag nun doch nicht, denn es ist der erste Tag einer Woche, in der aufgrund einer verabredeten Wette testweise der Schulweg mit verschiedenen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden soll, um zu beweisen -- nach Ansicht unseres wettenden Schülers zu widerlegen --, dass Wege unter zwei Kilometern Länge vorzugsweise zu Fuß zurückzulegen sein sollten. Ist natürlich völliger Unsinn, wie unser selbstbewusster Schüler meint, selbstverständlich ist ein Fahrzeug jedweder Art für moderne Schüler unverzichtbar, weil normale Füße viel zu langsam laufen.

In dieser siegesgewissen Sicherheit steigt er also auf und fährt los, während es beginnt zu regnen. Macht nichts, sind ja nur ein paar Tropfen. Auf dem Gehweg fahrend wird er von einer schrecklich hysterischen Oma verscheucht und fährt nun weiter auf der Fahrbahn, was er eigentlich vermeiden wollte, weil dort die Autos so dicht vorbeirasen. Im dichten Abgasmeer dahinkeuchend fällt ihm zu spät eine wohl des nachts mutwillig zerbrochene Bierflasche auf, deren Reste er notgedrungen überfährt. Macht aber nichts, wird schon gutgehen, wie immer. Ein besonders eiliger LKW überholt noch schnell, bevor er rechts abbiegt und unseren Schüler fast begräbt, der sich jedoch mittels eines schnellen Sprunges auf den Gehweg retten kann, bevor sein Fahrrad unter den schweren Reifen verendet. Da steht er nun, schwitzend, durchnässt; und sein Fahrrad hätte sogar noch einen Platten gehabt, wenn es denn noch lebte. Und er kommt -- schlimm -- zu spät zum Unterricht.

Na gut, das mit dem Fahrrad ist ja auch eher etwas für naive Idealisten. Sowieso viel zu anstrengend. Also steigt unser Schüler am nächsten Morgen besser in den Bus, wie er sich so denkt. Einfach aus der Haustür um die Ecke gelaufen, eingestiegen, bequem hingefahren, ausgestiegen, um die Ecke in die Schule, fertig. Tatsächlich funktioniert sein billiger Plan bis zur Haltestelle. Nun müsste um 32 der Bus erscheinen. Es wird 33, 35, 40 und kein Bus kommt. Eine mitwartende Dame erlöst sein Unverständnis dahingehend, der Bus sei bereits um 30 da gewesen. Schön, diese Überpünktlichkeit, sehr nützlich für Leute, die es noch eiliger hatten als unser Schüler. Endlich, da kommt der nächste Bus -- und fährt wegen Überfüllung einfach vorbei. Viele eine überzeugende Verspätungsentschuldigung konstruierende Gedankengänge später erscheint er um 52, der rettende nächste Bus. Eng ist´s darin, glitschig und stinkend, aber immerhin besser als laufen. Wenn jetzt an der vorletzten Haltestelle nicht noch ein Fahrerwechsel stattfinden würde, wäre unser armer Durchschnittsschüler schon um 08:10 Uhr rennend und schwitzend in seiner Schule angekommen, aber so dauert´s eben noch etwas länger; worauf es hinsichtlich des Grades der Schlimmheit schon nicht mehr ankommt. 

Ok, ist ja klar, wer fährt schon mit dem Bus. Das ist was für Leute, die endlos Zeit haben. Schüler dagegen haben´s immer eilig, ihre geliebte Schule nur ja überpünktlich zu erreichen. Am nächsten Morgen wird ein Elternteil männlicher Variante zwangsrekrutiert, seinen Nachwuchs standesgemäß im Mercedes 450 SEL 6,9 -- dem spießigen Garagenliebling des leider oftmals nicht weniger spießigen Herrn Obervaters -- zum Einsatzort zu chauffieren. Von einem solchen Auto darf wohl erwartet werden, dass man, kaum eingestiegen, auch schon wieder aussteigen kann, so schnell, komfortabel und ausgeruht sollte jedwedes Fahrtziel erreicht sein. Und nebenbei könnte man mit dieser Benzinschleuder zumindest vor seiner etwas bildungsferneren Mitschülerschaft ganz nett angeben, prognostiziert professionell unser ganz normaler Durchschnittsschüler. In dieser Überheblichkeit lässt er sich denn herab, auf dem Ledersofa im Heck Platz zu nehmen. Die Garage öffnet sich, der Luxusschlitten fährt vor -- und wird vom Müllwagen blockiert. Na gut, warten wir eben, die verlorene Zeit holen wir danach schon wieder rein. Nach vierminütiger konzentrierter Borduhr- Observation ist der Weg endlich frei. Sofort wird hektisch eingebogen, sogleich abgebogen und sofort -- angehalten. Denn der Ampelstau kennt im Berufsverkehr kein Erbarmen mit schicken Karren. Die Uhr erfährt eine Beachtung, um die sie manches Topmodel beneiden würde. Nach endlosen 11 Minuten ist der Weg endlich frei für den Chauffeur, die Kreuzung trotz Rotlichtes gerade noch unfallfrei passieren zu können. Und da ist sie auch schon, die nächste Ampelkreuzung. Die Autowracks des neuesten Unfalles liegen noch immer brennend herum, behindern den weiteren Schulweg in inakzeptabler Weise und verursachen den Verlust dreier weiterer Minuten. Der Durchschnittschüler rechnet schwitzend aus, dass die verbleibenden 800 Meter unter Berücksichtigung minimalst möglicher Beschleunigungszeit, maximalst wirkender Bremsanlage, explosionsartigen Aussteigens und raketenartigen Treppensteigens mit einer Geschwindigkeit von ca. 78 km/h zurückgelegt werden müssten, um heute noch pünktlich im Klassenzimmer zu erscheinen. Als jedoch ein Radfahrer mit seiner Jutetasche den rechten Aussenspiegel berührt und der Chauffeur außer Sinnes dem Auto entspringt, um den Schädiger zu verfolgen, vom Rad zu reißen und in dem offenkundigen Vorhaben, ihn zu lynchen ein paar letzte Worte mit ihm wechselt, bevor er allerdings von mehreren Passanten zu Boden geworfen wird, weiß unser Schüler : Es geht immer noch schlimmer. Diese Erkenntnis kostet ihn um 08:15 Uhr einen amtlichen Tadel seiner Lehrerin.

So kann das nicht weitergehen, denkt sich unser Schüler. Am Ende würde es noch so weit kommen, zu Schule laufen zu müssen -- nein, das wäre das Ende. Am Ende des schlaflosen Schultages beschließt er -- zu allem entschlossen --, seinen entfernten Onkel, einen Piloten der Flugbereitschaft der Luftwaffe, anzurufen, um ihn zu bitten, auszuhelfen. Dieser Onkel legt seltsamerweise auf, nachdem er die Frage einfach nur mit einem Lachen beantwortet hat. Doch sogleich ereilt ihn ein rettender Einfall. "In der Not hilft Dir Dein Freund und Helfer -- Deine Polizei", hatte der Schüler mal in irgendeiner bescheuerten Schulsendung gehört. Er könnte doch morgen früh einfach bei den Bullen anrufen und behaupten, in seiner Schule sei ein Massaker geplant -- und nur er, der Durchschnittsschüler wisse, wie der Täter aussehe. Dann müssten nach seiner eiskalten Berechnung etwa fünf Minuten später mehrere Mannschaftswagen vor der Tür stehen, er könnte sich den schönsten zum Einsteigen aussuchen, sie würden gemeinsam mit Blaulicht nach wenigen Sekunden dort ankommen und er würde aussteigen und sich entschuldigen mit den Worten, er habe soeben bemerkt sich im Datum geirrt zu haben; eigentlich sei es schon für letzte Woche geplant gewesen, aber da ja bis heute gar nichts passiert sei, habe sich wohl jemand einen Scherz mit ihm erlaubt. Eine derart raffinierte Geschichte könnte ihm niemand verübeln; schließlich ist er noch ein unbescholtenes Kind, das weiß er genau.

Gesagt, getan nach einer schlaflosen Nacht. Der Beamte am Telefon verhält sich jedoch unerwartet kritisch und legt besonderen Wert auf die Beantwortung der Frage nach dem Namen und der Adresse unseres Schülers. Wahrscheinlich nur damit sie wissen, wo sie klingeln sollen, denkt er noch bei sich, verschlingt kichernd ein paar Tüten Erdnussflips und wartet. Lange. 

Etwa eine Stunde später wird er von seinem ehemaligen Chauffeur äußerst ungehalten aus dem Schlafsessel gerissen und zur Rede gestellt. Es habe ein äußerst unangenehmes Gespräch mit dem Kontaktbereichsbeamten gegeben, das im Hinblick auf neuerdings neuartig aufzuziehende Erziehungssaiten zu äußerst unangenehmen Konsequenzen für seinen Sohn führen werde, verdeutlicht er, während er dessen Handy aus dem Fenster wirft. Unser Durchschnittsschüler, nicht sogleich sichtbar beeindruckt, zeigt sich erst einsichtig -- äußerst --, als die Musikanlage, der Fernseher, der PC, die Modellautosammlung und das coole zerlöcherte T-Shirt dem Handy folgen. Den Verlust des in den Laubhäcksler geratenen Shirts wird er in diesem Leben wohl kaum verkraften können, mutmaßt er schluchzend und schleppt sich schwitzend nach dem Ende der Generaldebatte mit letzter Kraft zu Fuß in sein Klassenzimmer. Zu allem Unglück hat er damit auch noch seine Wette verloren. Bis zum Ende des Schuljahres darf er nun bei jedem Wetter täglich hierher laufen; wie schrecklich schlimm.

 

Am nächsten Morgen läuft er total normal los, zu nach seinem Empfinden nachtschlafender Zeit -- und kommt zu seiner eigenen Verwunderung seither nie wieder zu spät.